Wer hat meinen Vater umgebracht (DE)
Deutschsprachige Erstaufführung
nach dem Buch von Édouard Louis, mit Motiven aus Das Ende von Eddy
in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel
Bühnenbearbeitung von Christina Rast und Heike Müller-Merten
Besetzung: Eddy/Édouard – Peter Fasching, Sebastian Klein, Julia Kreusch, Sebastian Pass, Birgit Stöger
Regie: Christina Rast
Bühnenbild: Franziska Rast
Kostüme: Sarah Borchardt
Musik: Felix Müller-Wrobel
Licht: Paul Grilj
Dramaturgie: Heike Müller-Merten
Volkstheater Wien 2019
Originalbeitrag für das Programmheft (Auszug):
Identität und Herkunft
Kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag schickte Édouard Louis, geboren 1992 als Eddy Bellegueule in einem kleinen Ort in der nordfranzösischen Provinz, das Manuskript seines ersten autobiografischen Romans Das Ende von Eddy an einen großen Pariser Verlag. Darin blickt er im Zorn zurück auf seine Kindheit, die von Armut, toxischer Männlichkeit, Homophobie und Bildungsferne geprägt war.
Mit dem Schreiben verband er den Entschluss, das innere Gefängnis der Scham zu verlassen, eine doppelte Scham, über das proletarische und elende Herkunftsmilieu und die Ausgrenzungserfahrung als Homosexueller. Die Antwort des Verlages ließ, wie Louis in einem SPIEGEL-Interview erzählt, keine zwei Wochen auf sich warten: „Sie könnten den Roman nicht veröffentlichen, teilte man mir mit. Das Elend, von dem ich berichtete, hätten wir vor hundert Jahren hinter uns gelassen, die Leser würden nicht glauben, was ich erzählte. Ein solches Buch kaufe keiner, hieß es.“
Die Prophezeiung im Hinblick auf den Bucherfolg erwies sich als ebenso falsch wie die Einschätzung der Lebensrealitäten von Armutsbetroffenen, zu deren unfreiwilligen Kronzeugen man die siebenköpfige Familie Bellegueule zählen darf. 2014 erschien En finir avec Eddy Bellegueule auf dem französischen und kurz darauf in Übersetzungen auf dem europäischen Buchmarkt – ein Bestseller.
Zu der Zeit war aus Eddy Bellegeule bereits Édouard Louis geworden, ein Student an zwei renommierten Pariser Elite-Hochschulen, der sich – unterstützt von seinem Mentor Didier Eribon – eingehend mit dem Werk des Soziologen Pierre Bourdieu und den nicht mehr feinen Unterschieden in den heutigen neoliberalen Gesellschaften befasste. Und der sich fortan als politischer Aktivist nicht nur mit den Deklassierten solidarisch fühlte, sondern direkt und unmittelbar in deren Kampf eintrat. Bereits 2015 verfasste er gemeinsam mit Geoffroy de Lagasnerie das Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive. Vier Jahre nach seinem Debüt und zwei Jahre nach seinem zweiten Roman Im Herzen der Gewalt kehrte sein literarisches Ich an den Ausgangspunkt seines Lebens und den Quell seines Schreibens zurück – nach Hallencourt, in das Vaterhaus, das Eddy als Schüler Richtung Gymnasium und Internat verlassen hatte.
Jetzt sucht der Sohn – mit geschärftem Blick – die Annäherung an seinen Vater, der ihm fremd und nur als Verkörperung patriarchalischer Gewalt in Erinnerung geblieben war. Der Autor wechselt die Perspektive, wird zum Beobachter, Rechercheur. In seinem 2018 erschienen neuen Buch stellt er die Systemfrage: Qui a tué mon père. Wer hat meinen Vater umgebracht?
Und er liefert die Antworten gleich mit, was ihm in den bürgerlichen Kreisen, in denen er sich nunmehr als „Classtraveller“ bewegt, und auch in den literarischen Zirkeln nicht unbedingt Zuspruch beschert.
Bereits im Mai 2017 hatte sich Louis in der New York Times anlässlich der Präsidentschaftswahl in Frankreich in einem Artikel Why My Father Votes for Le Pen (Warum mein Vater Le Pen wählt) dazu geäußert, warum sein der Arbeiterschicht entstammender Vater sich von den linken Parteien verraten fühlt und den FN unterstützt. In Wer hat meinen Vater umgebracht, im Januar 2019 auf Deutsch erschienen, geht er einen Schritt weiter. Der Sohn sucht die Ursachen für die systembedingte physische Zerstörung des Vaters und die Unmöglichkeit eines gelingenden Lebens seiner Familie – stellvertretend für andere.
In der frisch erworbenen Kenntnis, dass die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich benachteiligten Klasse nicht nur für seinen Vater ein Urteil bedeutet, kann der Sohn die Opferrolle verlassen und wird zum Ankläger.
Die Anfangssequenz des Buches Wer hat meinen Vater umgebracht eröffnet dem Theater als einem der letzten verfügbaren öffentlichen Diskursräume einen eigenen Zugriff: „Wenn dies ein Theatertext wäre, müsste er mit den folgenden Worten beginnen: Ein Vater und ein Sohn befinden sich in einigen Metern Abstand zueinander in einem großen, weitläufigen und leeren Raum …“
Das Volkstheater Wien greift den Vorschlag auf. Die Bühnenbearbeitung verwendet zusätzlich Motive aus Das Ende von Eddy, die für die Skizzierung des Herkunftsmilieus von Vater und Sohn unverzichtbar sind. (…)
© Heike Müller-Merten